Zwei Bewusstseinsrichtungen: Vertikale und Horizontale / Glauben und Denken

Thomas von Aquin: „Was ich weiß, glaube ich nicht – was ich glaube, weiß ich nicht.“

Im permanent sich wandelnden Entwicklungsprozess des Bewusstseins tastet das ICH das SEIN ab und fühlt sich in seiner Identifizierung dem zeitlich vorgegebenen Lebensgeschehen unterworfen. Das Ichbewusstsein ist daher ein vielschichtiges Phänomen, deren einzelne Bereiche sich in einer ständigen Bewegung  und Überschneidung befinden. Wie in einer Hierarchie handelt es sich dabei um Außen- und Innenbereiche, die durch die Richtungstendenzen unseres Bewusstseins bestimmt werden. Solche Richtungstendenzen sind z.B. einerseits wirkendes Verhalten und andererseits Weltinnewerden.

Alle Aktivitäten unseres Bewusstseins, die sich allein dem Außen zuwenden, bewegen sich dabei auf einer linearen Horizontalen und werden als primär zeitlicher Prozess zwischen Vergangenheit und Zukunft erlebt. Auf dieser Bewusstseinsebene existiert ein Körperbewusstsein, ein Sinnesapparat und es werden Stimmungen, Eigenschaften, Reaktionen aus der Welt der Ideen bewusst verarbeitet. Auf dieser Ebene identifiziert sich das Ich mit allen seinen Strebungen, Wünschen und Wollungen. Man kann darum diesen auf das Außen gerichteten Bereich des Ich auch Unruhebewusstsein nennen. Ganz anders verhält es sich mit der Bewusstseinsausrichtung, die sich auf ein Weltinnewerden bezieht und einen Zugang zum Selbst ermöglicht. Denn die Seele des Menschen, die sich ihrer selbst bewusst ist, steht in Verbindung mit der Weltseele. Sie ist ein Wesensteil der Seele des Universums, kann Gottes Absicht erkennen und einsichtig und verständnisvoll am Evolutionsplan  Gottes mitwirken. Diese Bewusstseinsrichtung verläuft nicht horizontal, sondern in einer Vertikalen, die in die Tiefe unseres Bewusstseins und über das zeitlich-horizontale Ich in eine immanent-zeitlose Transzendenz hinausweist. Da in dieser Bewusstseinsrichtung die Zeitlichkeit als Prozess weitgehend aufgehoben zu sein scheint, könnte man diesen Bewusstseinsbereich als Ruhebewusstsein bezeichnen.

Beide Bewusstseinsausrichtungen, die horizontale wie die vertikale, ergeben in ihren vielschichtigen Überschneidungen den individuellen Eigenraum eines Menschen, der auch die Vernetzung zum Du herstellt, jene Einheit, die jedoch aufgrund der Illusion einer phänomenalen und scheinbaren individuellen Eigenständigkeit kaum wahrgenommen werden kann. Insofern sind gerade diese Überschneidungen die Conditio sine qua non für den Entwicklungsprozess der Menschheit, weil sie die „Unschärferelation“ im Leben eines Menschen sind, die allein die notwendigen Spannungen ausmacht, die jedem Individuum die notwendige Reibung für seine Transparenz ermöglicht und seine wirkliche individuelle Ich-Bewusstseinssphäre erzeugt. Denn allein das Zusammenspiel von horizontaler und vertikaler Bewusstseinsausrichtung ergibt für das Ich seinen größtmöglichen Bewegungsradius, der im Leben als sphärisches Umfeld alle Strebungen des Ich auch das „Überich“ und das „Unterbewusste“ mit umfasst.  Die Vertikale stellt somit die Verbindung zu den übergeordneten Bewusstseinsbereichen dar, die als spirituelles Leben ständig auf die Horizontale einwirkt.

Darüber nimmt  der Plan Gottes Gestalt an, wobei die Vergangenheit jeweils die Formgestaltung darstellt und die Gegenwart jeweils das Einfließen von Energien für eine Höhertransponierung verwirklicht. Dieser permanente Bewusstseinstransformierung stellt  den  Entwicklungsprozess  des menschlichen Denkvermögens dar, den Jean Gebser in seinem Werk „Ursprung und Gegenwart“ so anschaulich beschrieben hat. Er nennt darin vier Entwicklungsstufen;

  1. archaisches
  2. magisches
  3. mythologisches
  4. mentales Bewusstsein

Letzteres teilt sich gegenwärtig in

1. Abstraktes oder höheres Denken, Vertikales Bewusstsein / göttliches Denkprinzip

2. Konkretes oder niederes Denken, Horizontales Bewusstsein / weltliches Denkprinzip auf.

Lit.: „Unschärferelation von Geist und Materie“ / Smigelski /BoD

Jean Gebser / „Ursprung und Gegenwart“ / Novalis 1978