Instinkt und Intellekt ein Auszug aus dem Buch „Selbsterkenntis und Verblendung“
von Werner Smigelski

Genau wie die Eingebungen der Intuition entstehen auch die Instinktimpulse im Geheimen. Beide beginnen räumlich gesprochen in den innerhalb unseres Bewusstseins gelegenen Bereichen unseres Selbst, kommen aber gleichzeitig unerwarteter Weise ans Licht des Tagesbewusstseins. Wenn sie zum Vorschein kommen, sind sie notwendigerweise beinahe vollständig, und ihr Eintritt in unser Bewusstsein erfolgt plötzlich. Allerdings liegt die Intuition auf der dem Instinkt entgegengesetzten Seite der Vernunft. Wir haben hier also die interessante Dreiheit von Instinkt – Intellekt – Intuition, wobei der Instinkt sozusagen unter die Bewusstseinsschwelle gesunken ist, der Intellekt den ersten Platz im Denken des Durchschnittsmenschen einnimmt und die Intuition über diesen beiden liegt. Sie macht ihre Gegenwart nur gelegentlich in plötzlichen Erleuchtungen und im Erfassen einer Wahrheit bemerkbar.

Es sind die drei sich ergänzenden Aspekte des menschlichen Bewusstseins, die ständig vermischt in Tätigkeit und niemals nur einzeln aktiv sind, sondern im Gegenteil bei Input und Output zusammen wirken. Der Mensch erfährt überhaupt nur über permanente Eingaben etwas, und die Intelligenz hat dann lediglich die Eingaben zu ordnen und im Denken für ihn relevant zu machen. Darüber begreift dann der Mensch wiederum die Welt, um mit ihr vernünftig umgehen zu können. Leider haben die meisten Menschen kaum Inputs. Solche Menschen gelten dann oft als unterbelichtet oder dumm. Andere wiederum haben zu viele Inputs und sind damit total überfordert, diese sinnvoll umzusetzen. Das sind dann die verkrachten Genies.

Der Mensch besitzt seine Hauptinstinkte mit allen Tieren gemeinsam. Wenn diese Instinkte zu selbstsüchtigen und persönlichen Zwecken gebraucht werden, steigern sie zwar das körperliche Leben und stärken die animalisch materielle Natur, tragen aber zugleich auch immer mehr zur Verhüllung des Selbstes im geistigen Bewusstsein bei. Sie mussten daher im Laufe der menschlichen Entwicklung in ihre höheren Entsprechungen umgewandelt werden, weil jede animalische Eigentümlichkeit im Menschen ihr geistiges Urbild hat. So mussten z.B. der Instinkt der Selbsterhaltung schließlich der Erkenntnis der Unsterblichkeit weichen, der Instinkt, der das niedere Selbst veranlasste, sich vorzudrängen und seinen Weg aufwärts zu erzwingen, verwandelte sich in ein Streben nach einem höheren oder geistigen Sein, und die Sexualität als alle animalischen Formen machtvoll beherrschender Instinkt erfuhr in einer erotischen Anziehungskraft eine Steigerung und brachte in ihrer edelsten Form die Vereinigung der Seele mit ihrem physischen Träger zustande, und der Instinkt, der Drang zu fragen, zu suchen und zu forschen wird der intuitiven Wahrnehmung und Einsicht eines Tages Platz machen.

Wir stellen heute fest, dass die Menschheit in dem langen Evolutionsprozess aus dem tierischen Stadium in das menschliche aufstieg und jene Stufe erreichte, auf welcher der Mensch eigenbewusst oder selbst-bezogen geworden ist. Er steht im Mittelpunkt seiner eigenen Welt, und das Universum dreht sich um ihn. Alles Geschehen bezieht sich auf ihn und seine Angelegenheiten. Der Mensch wird zum Maß aller Dinge, und eine Befriedigung und das Gefühl des Einsseins mit sich wird im Bereich materiellen Besitzes gesucht, weil sich der subtile, innere Mensch erst ganz allmählich geltend macht. In der Frühzeit der Menschheit suchte der Mensch allein Befriedigung darin, indem er fast automatisch auf die physischen Instinkte reagierte wie Fortpflanzung, Ernährung und Wärme. In dem Maße, wie der Mensch an intellektueller Bewusstheit zunimmt, wird das Bewusstsein nunmehr zum Werkzeug oder Instrument der „geschulten Instinkte“ und des kontrollierten Denkens. Dieses Denken schöpft aus der Umwelt das, was zur Weiterführung des Lebensprozesses in einer bedürfnisreichen Welt erforderlich ist und überdeckt als Intelligenz mehr und mehr die instinktiven Impulse.

Schon seit dem frühesten Stadium menschlicher Existenz bis heute gab es aber auch immer ein Bewusstsein von etwas Anderem, von einem jenseits menschlicher Erfahrung liegenden Faktor. Dieses subtile und undefinierbare Gewahrsein kommt unvermeidlich und immer stärker zum Vorschein, bringt den Menschen ständig weiter voran und drängt ihn zur Suche nach dem, was ihm weder der Instinkt noch seine Intelligenz vermitteln können. Erst über sein erkennendes Denken als Verstand und Vernunft kann man diese Suche nach mystischer Erfahrung einen religiösen Impuls nennen. Dieser Drang nach einem umfassenderen Verstehen und Wissen zeigt sich heute bereits bei vielen Menschen, wird sich aber erst in der Zukunft als entscheidender Aspekt im neuen Bewusstsein offenbaren. Normalerweise erfassen auch heute noch die meisten Menschen nur das, was sie sehen, und sehen gewöhnlich nicht darüber hinaus. Es ist aber sehr wohl möglich, von der Welt eine andersartige Empfindung zu bekommen, wenn man hinter der sichtbaren Wirklichkeit das Unsichtbare wahrnimmt und die Oberfläche durchdringt, um durch die Dinge hindurch deren Ursprung zu erkennen. Um das Hintergründige zu erfassen, bedarf es neben Intelligenz und Denken noch dazu mentaler Fassungskraft und gelenkter Intuition, denn alle „Phänomene erreichen uns maskiert im Gefüge von Zeit und Raum, deren letzte Bedeutung wir nicht eher verstehen sollen, als bis wir herausgefunden haben, wie wir sie aus ihrer Zeit-Raum-Umhüllung herausschälen müssen“ (A. Bailey). Durch Meditation kann das, was das Licht verdunkelt, allmählich entfernt werden, und das bedeutet, dass die Qualität einer Intuition immer auch vom Bewusstseinslevel eines Menschen abhängt. Intuitive Erfahrung besteht also darin, die Aufmerksamkeit strahlenförmig auf die holographische Platte, die wir Geist nennen, zu richten.

Meditation kann mit vollem Recht als ein Teil des natürlichen Entwicklungsprozesses angesehen werden, der den Menschen auf dem Pfad der Evolution von einem kaum über dem instinktiven Tierzustand liegenden Niveau bis zu seiner gegenwärtigen Position mentaler Errungenschaft geführt hat, wobei sich sein Bewusstseinszentrum ständig verlagert hat. Der größte Teil der Menschheit ist längst aus dem rein tierischen und körperlichen Seinszustand in den intensiver Gefühls- und Sinneswahrnehmung übergegangen, wobei die Transferierung des menschlichen Bewusstseins in das der Seelen-Erkenntnis und Seelen-Wahrnehmung vornehmlich durch Meditation zustande gekommen ist. Die Transmutation des Bewusstseins bedeutet dabei eine Umleitung der Energien des Denkvermögens und der Gefühle, so dass sie der Offenbarung des wirklichen Selbstes und nicht bloß zur Wahrnehmung der realen Bilderwelt dienen. Die Diskrepanz zwischen wahrnehmbarem Außen und unsichtbarem Innen erzeugt im Menschen Spannungen und Ängste, weil Motive und Handeln so schwer zur Deckung zu bringen sind. Das wiederum führt fast zwangsläufig zur Verwechslung beider Bewusstseinsebenen (horizontal und vertikal) in der Bewertung, Identifikation und Rechtfertigung im Kommunizieren und Zusammenleben der Menschen. Und das Ergebnis ist Verblendung, das Grundübel im Leben schlechthin.